Einen typischen, aber groben Fehler machen wir, wenn wir davon ausgehen, dass meine Sicht der Dinge die Bessere oder sogar die Richtige ist. Das passiert ständig und Anlass für viel Konflikte und Auseinandersetzungen unter Paaren, der schon etwas gelindert werden könnte, wenn man diesen kleinen Passus dazu sagt. Zum Beispiel „Aus meiner Sicht ist dieses Verhalten sehr egoistisch oder bequem oder leichtsinnig etc.“ Dies ist ein himmelweiter Unterschied zu „Du bist oder das ist sehr egoistisch, bequem oder leichtsinnig. Seine eigene Sicht darzustellen löst bei weitem nicht soviel Widerstand, Gegenangriff oder Rechtfertigung aus, denn es ist erst mal nur eigene Sichtweise, Meinung oder Interpretation und die darf jeder haben. Deswegen muss es nicht wahr sein und jeder kann ganz ruhig seine Sicht oder Gründe für sein Verhalten darstellen ohne sich verteidigen oder rechtfertigen zu müssen.
Ein Beispiel: Bei Max und Anna stand ein Autokauf nach einem Unfall an. Max wollte unbedingt ein sichereres Auto also am besten Mercedes A-Klasse. Anna war das eine Nummer zu groß, zu protzig und zu teuer. Ihr wäre ein Polo oder Golf ausreichend. Peter war in seiner Sorge so stur und blind, dass er Annas Argumente nicht hören wollte und konnte. So stritten sie sich schon wochenlang, bevor sie in meine Praxis kamen. Es war ein klassisches Beispiel für viele ähnliche Themen. Die Kunst des konstruktiven Streitens liegt darin, deine und meine Welt (Wer-te, Sichtweisen) getrennt zu betrachten und nebeneinander zu stellen statt gegeneinander oder sogar darüber. Dazu ist es unabdingbar notwendig, die Sicht des Anderen erst mal zu verstehen und auch wiederzugeben, was man verstanden hat. Nachdem Anna die gute Absicht (Sorge) hinter Max Drängen anerkannt hatte, war auch Max deutlich leichter in der Lage, Annas Bedürfnisse wahrzunehmen, seine Sturheit zu sehen und zurück auf eine sachliche Ebene zu kommen. Vorher fühlten beide sich nicht gehört und verstanden, sondern sogar abgewertet und auch überrumpelt. Max stand darüber hinaus unter einem irrationalen Zeitdruck, weil er dachte, morgens und abends zum Bahnhof zu laufen, wäre nicht zumutbar für sie. Ihr dagegen machte es gar nichts aus. Lieber so als voreilig zu entscheiden. Nachdem das klar war, war schon sehr viel Spannung weniger im Raum und jeder war deutlich mehr bereit, seinen Standpunkt zu überdenken bzw. den des anderen gelten zu lassen.
Das Prinzip lässt sich auch sehr gut auf Werte wie Ordnung und Sauberkeit übertragen. Hier kommt es sehr häufig zu Polarisierungen und Machtkämpfen, Abwertungen und Unterstellungen. Bettina ist beim Saubermachen sehr gründlich und penibel, Frank dagegen eher locker und oberflächlich. Sie bewertet sein Verhalten als schlampig und bequem, er das ihre als übertrieben und zwanghaft. Das ist der Stoff, aus dem Scheidungen entstehen. Hier braucht es außer dem Verständnis für die Bedürfnisse des anderen natürlich auch Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft.
Der eine fühlt sich nur wohl, wenn jeden Tag gesaugt wird, dem anderen reicht es einmal die Woche. Keiner ist deswegen falsch, er hat andere Werte und Bedürfnisse und die gilt es erst mal zu hören und zu respektieren, bevor man sich über Sinn und Machbarkeit und eventuelle Kompromisse einigt. Beide sind offensichtlich in verschiedenen Welten (Elternhäusern) aufgewachsen und jeder hat – teils unter Strafe – gelernt, was die Eltern als normal definieren.
Fazit:
1. Die verschiedenen Sichtweisen nebeneinander und nicht gegeneinander stellen bzw. stehen lassen. Am besten in eigenen Worten wiedergeben.
2. Die jeweils andere Sichtweise verstehen und respektieren und nicht be- oder abwerten. Die Sicht des anderen zu verstehen, heißt nicht ihm Recht zu geben!
3. Erst jetzt nach Kompromissen oder Lösungen suchen.